Jour fixe diskutiert Bestseller des französischen Soziologen „Rückkehr nach Reims“ in engagiertem Pro und Contra / Von Wulf Skaun
Spannend-diverse Dispute sind auch bei Jour fixe, dem unkonventionellen Gesprächskreis am Leipziger Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, keine Dutzendware. Der 25. Konvent im Juni erlebt sie. An Didier Eribons Bestseller „Rückkehr nach Reims“ reiben sich die Geister. Vor wiederum vollem Haus bietet er auch zwei Premieren. Erstmals moderiert Micha Zock den Diskurs, bis zum bitteren Aus von „Leipzigs Neue“ deren Chefredakteur. Und erstmals tragen vier Referenten im 15-Minuten-Takt ihre speziellen Leseerlebnisse vor. Ökonomie der Zeit um größerer Interpretationsvielfalt willen. Ein gewagtes Konzept, das dank der souveränen Gesprächsleitung des Moderators und der Disziplin der Vortragenden voll aufgeht: Unterschiedliche Lesarten ermöglichen dem engagierten Auditorium, Gehörtes zu bestätigen, zu ergänzen, konträre Positionen zu äußern.
Peter Porsch hat Eribons Werk „sehr persönlich“ berührt. Er stamme wie der französische Soziologe aus ähnlich proletarisch-prekärem Milieu und wisse als Soziolinguist und Dialektologe wie jener um den wechselseitigen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Sprache. „Ich habe ,Rückkehr nach Reims‘ als Buch des großen Schrecks gelesen: Eribon, der als Intellektueller aus der Unterschicht aufgestiegen ist, findet, auch weil er inzwischen eine andere Sprache spricht, nicht mehr in sie zurück.“ Eine Rückkehr in das Herkunftsmilieu bleibe ihm auch seitens der unten Gebliebenen verwehrt, deren Ausdrucksmittel nach wie vor auf Codes reduzierter Dialekt sei, in dem sich das Rollenverständnis der working class, ihre soziale Ungleichheit und Ausgrenzung spiegele. Eribons elaborierte Sprache der Mittelschicht werde von seinem Geburtsmilieu nicht verstanden und erweise sich so als Sprach- und Kommunikationsbarriere. Mit allen populistischen Folgen.
Die Philosophin Monika Runge konzentriert sich auf die von Eribon aufgeworfene Frage, warum traditionelle KPF- und Linkswähler sich rechten Bewegungen auslieferten und welchen Anteil die „offizielle Linke“ daran habe. Mit Eribon diagnostiziert sie eine linke Politik, die sich mehr auf prekäre Minderheiten als auf die Problemlagen der arbeitenden Klasse orientiere. Diese Lücke füllten rechtsnationalistische Kräfte wie der Front National mit ihrem neoliberalen Konzept: „Gesellschaftsvertrag“ statt klassenbewusster Widerstand. Runge sieht ähnliche Tendenzen in der eigenen Linkspartei. Wie Eribon plädiert sie dafür, die Linke möge sich gezielt der Arbeiterschaft und dem Mittelstand zuwenden. Das erfordere auch, den intellektualisierten Kommunikationsprozess mit ihnen in einer massentauglichen Sprache wiederherzustellen, um zu gemeinsamem Diskurs zu finden.
Wie man ein „anderer“ wird, sich von seinen sozialen Fesseln befreit und ein selbstbestimmtes Individuum wird, hat die Leibesphilosophin Konstanze Caysa an Eribons Buch besonders interessiert. Anhand des Begriffs „Habitus“, der auf Pierre Bourdieu zurückgeht und mit dem sich der Autor auseinandersetzt, spürt sie den Technologien des Selbst nach, die auch Eribon halfen, seinen zwei Verdikten zu entrinnen, dem sozialen und dem homosexuellen, um zu schlussfolgern, „dass Gesellschaft und Herkunft für den Einzelnen nicht als unüberwindbares Schicksal begriffen werden müssen.“
Als vierter Rezensent spricht Jan Kiesewetter. Der Elektromonteur („Kommunist ohne Parteibuch“) versteht sich als klassenbewusster Proletarier, der Eribons bereits 2009 in Landessprache erschienenem Buch Pionierarbeit bescheinigt. Weit vor Brexit, österreichischem Nationalismus, Erdogan und Trump habe der Franzose Probleme angefasst, die die eigenen linken Intellektuellen „nichts angingen“. Von ihnen wolle er heute „nicht abgeholt werden“, denn sie hätten seines Erachtens keinen Begriff mehr von der arbeitenden Klasse und ihrer nach Marx benannten Mission. „Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bin ich richtig.“
In der Diskussion geht es hoch her. Der Autor dieser Zeilen hält das Buch nicht für den ihm nachgerühmten großen Wurf, weil es von inhaltlich undifferenzierten und soziologiemethodisch anfechtbaren Aussagen geprägt sei. Insbesondere kritisiert er Eribons verabsolutierten Befund, die Linken hätten die Rechtsentwicklung in Frankreich verursacht. Das sei ein opportunistisches Fehlurteil, das, bewusst oder nicht, dem politischen Establishment in die Karten spiele. Eribons Theorem, die „populären Klassen seien unausweichlich darauf angewiesen, die Wahrnehmung ihrer Interessen an Parteien zu delegieren, die in ihrem Namen sprechen“, entpolitisiere sie und orientiere auch die Linke auf bloßen Diskurs. Eine Absage an ihre traditionell kämpferische soziale Aktion. Damit ist eine, bisweilen auch hitzig geführte, Pro- und Contra-Debatte entfacht. Mehrere Redner wenden ein, Eribon würde mit weitergehenden Ansprüchen überfordert; die Großartigkeit seines Buches solle damit nicht versperrt werden. Immerhin habe der Soziologe den Finger in die Wunde gelegt, die Kommunikation mit jenen zu führen, die sich von den Linken nicht mehr vertreten sahen und daher Rechts wählten. Der Philosoph Volker Caysa lobt Eribons „exzellenten“ Erzählstil, doch nennt er das Dargebotene „altlinken Mainstream“, „Ausdruck von Stagnation und Rückschritt“. Michel Foucault, von Eribon verehrt, aber nicht verstanden, habe das vermeintlich Neue, so auch die Entdeckung der Zersplitterung des ehedem einheitlichen Proletariats, bereits Anfang der 1980er Jahre problematisiert.
Fazit des Disputs: Eribons Buch entfacht Kommunikation wie kaum ein anderes in den letzten Jahren. Es regt an und auf – und polarisiert.