Interview: Matthias Brenner – Sehnsuchtsort Theater


Konstanze Caysa

Interview mit Matthias Brenner

am 07. Juli 2015

Sehnsuchtsort Theater

LZ: Wie hängen Ihrer Meinung nach Philosophie und Theater konzeptionell zusammen?

Brenner: Das Theater ist der privilegierte Ort, an dem der Zusammenhang von Philosophie und Kunst im wahrsten Sinne des Wortes zur Aufführung gebracht wird. Es ist ein Wesenszug des Theaters, dass es die Welt philosophisch begreift. Das betrifft selbst das anscheinend Triviale. Man muss nicht immer gleich an Sophokles, Shakespeare, Goethe oder Schiller denken. Berücksichtigen wir doch bitte, dass selbst das Unterhaltungstheater Moliéres zutiefst philosophisch ist, das heißt zeitgeistkritisch. Selbst der Schwank hat philosophische Dimensionen. Ein Schwank wie beispielsweise „Pension Schöller“ ist ein zutiefst kluges philosophisches Stück dadurch, dass es Sehnsüchte der Menschen ausdrückt, indem zum Beispiel ausgegrenzte Lebensentwürfe zur Sprache gebracht werden. Natürlich in heiterer Form. Aber Unterhaltung ist eben nicht nur Unterhaltung und das Triviale nicht nur trivial. Das glauben nur Kulturkritiker.

Foto: FabianSchellhorn Matthais Brenner_Foto_Fabian Schellhorn

LZ: Wir leben in einer wirtschaftsliberalen Gesellschaft. Ist da das Theater nicht nur Unterhaltungsprogramm? Die Blaskapelle auf dem sinkenden Schiff?

Brenner: Man muss sich nichts vormachen. Die Zeiten des Theaters als Bildungsanstalt der Nation sind vorbei. Wir leben in einer aphilosophischen Zeit, die anstelle des Primats der Politik gegenüber der Ökonomie vom Primat der Ökonomie gegenüber der Kultur ausgeht. Alle kulturellen Medien sind marktwirtschaftlichen Imperativen unterworfen. Das Theater als Ort der Aufführung von Sehnsüchten der Menschen wird in unserer neuen Medienwelt an den Rand gedrückt. Das Bedürfnis der Menschen nach künstlerischen Träumen von einem anderen Leben wird durch die Volkstheater der High-Tech-Kinos befriedigt. Das Kino ist heute das Theater für das Volk. Dort wird es besehnsüchtigt wie einst im Musical oder in der Operette.

Das Theater bleibt das urexistente Leitmedium, in dem sich Menschen über ihr Leben verständigen und den Wunsch von einem anderen Leben aufgeführt bekommen oder sogar selbst aufführen. Da hat beispielsweise das Kinder- und Jugendtheater nach wie vor eine wichtige Funktion. Denken wir doch nur einmal an die mittlerweile bundesweit bekannte Erfurter „Schotte“.

LZ: Das Theater ist also für Sie ein Sehnsuchtsort. In ihm tauscht man sich aus über die Sehnsüchte nach einem anderen, dionysischen, nicht entfremdeten Leben. Ist das Theater der Ort, an dem wir unsere Seele freilegen, an dem wir uns über das verständigen, was uns alle bedrängt und angeht?

Brenner: Das Theater ist meines Erachtens ein Ort alternativer Gemeinschaftlichkeit, an dem Schauspieler und Publikum miteinander verschmelzen. Insofern hat es immer noch etwas von den dionysischen Festspielen der Antike. Allerdings ohne die damit verbundene Feierlichkeit und Heiligkeit. Das Theater säkularisiert das Dionysische und hat dadurch eine bildende Funktion. Das ist ja auch die Idee des jungen Schiller, der eben Theater in der Gegenwart für die Gegenwart machte, der versuchte die Träume der Menschen in Szene zu setzen, ihre Seelen freizulegen.

Im Theater erleben wir praktisch eine Seelenzeit. Wir besehnsüchtigen die Gegenwart mit Zukunft. Wir setzen die Sehnsuchtssegel. Sehnsucht ist Wind. Das muss Rückenwind werden. Wenn Sehnsucht Kantenwind oder Vorderwind ist, bekämpft er uns, ist er schädlich. Dann macht er uns kaputt. Aber wenn man das selber umleiten kann zum Rückenwind und die Leute ihre eigene Fähigkeit zur Darstellung ihres Daseins haben, dann machen wir uns auf zu großer Sehnsuchtsfahrt. Und das kann überall stattfinden, ob im traditionellen Theater, in der Kneipe, was wir auch versuchten, im Gasometer, in den Ruinen der alten Industriegebiete. Das haben wir mit dem Projekt „Industriegebietskinder“ versucht. Immer ging es dabei um existenzielle Fragen und insofern um philosophische Fragen: Um Krieg, Vergänglichkeit, Tod, Geburt und Sehnsucht nach Leben. Das nenne ich dionysisch.

LZ: Das Theater ist also nicht nur eine moralische, sondern eine dionysische Anstalt. Aber ist es dadurch nicht ein Ort der Anarchie?

Brenner: Die Funktion des Theaters an sich ist Ungehorsam. Das heißt aber nicht, dass es gesetzlos ist. Sein Widerstand ist künstlerischer Gestalt. Mit Ungehorsam meine ich nicht, Pflastersteine rauszunehmen und Scheiben einzuschmeißen, sondern ungehorsam zu denken, ungehorsam auch zivil-ungehorsam zu handeln. Eventuell überschreitet man da auch mal eine Grenze, die man nicht genau kennt. Das kann einem da passieren. Das hängt wieder mit dem Rausch zusammen, ja, der aber wichtig ist, weil der Rausch uns auch vorwärtsbringt. Der Rausch wird auch viel zu sehr beängstigt. Der Rausch enthemmt natürlich. Dass es natürlich dann wieder zu Gewaltanwendungen kommen kann, das ist die eine Seite. Es kann aber auch zu ganz potenzierter Empathie kommen. Das ist die andere Seite. Das aufzuwiegen miteinander können wir eh nicht, aber wir können Vorschläge machen.

LZ: Denken wir noch einmal an die Erfurter „Schotte“. In diesem Kontext stellt sich die Frage: Hat die Theaterlandschaft des Ostens bestimmte Werte mit in die gesamtdeutsche Theaterlandschaft herüber gebracht hat, die Bestand behalten?

Brenner: Ich glaube das, was wir aus dem Osten mitgebracht haben, ist die Erfahrung, dass wegen eines einzigen Satzes ein voller Theatersaal aufstehen konnte und Beifall spendet. Das konnte ein einziger Satz bewirken. Das haben die im Westen nie gehabt. Das entsteht heute wieder so, weil, wenn man heute wirklich an der Kapitalwelt kratzt in verschiedenster Weise, höre ich schon wieder Raunen im Zuschauerraum. Das geht schon wieder los. Das ist die Akkumulation von gesellschaftlicher Unzufriedenheit. Das gibt dem Theater natürlich eine besonders alltägliche Brisanz. Aber auch in den langweiligsten Zeiten kann das Theater sozusagen auch mehr oder weniger eine gute Laune schnell verderben oder eine schlechte Laune ganz schnell anheben. Dazu ist es da, Stimmungen zu reizen, zu kontern, Mainstreamgedanken zu beschädigen, dass sie sich zumindest neu rechtfertigen müssen, dass man sie in Frage stellen kann. Sich in Frage stellen – das ist ja nicht immer nur ein scherzhafter, sondern auch ein schmerzhafter Vorgang, das kann auch mit bitterem Lachen zu tun haben, mit beißendem Humor.

Das Theater hat ja auch eine karthatische Funktion. Du kannst ungestraft deinen Frust rauslassen. Du kannst spucken, du kannst Tomaten werfen. Du kannst sogar hoch gehen, das Stück boykottieren und dadurch zerstören. Du wirst dafür nicht in den Knast kommen. Das darfst du im Museum nicht. Das gemalte Bild zu zerstören ist ein Straftatbestand. Ich darf das gemalte Bild nicht „unterbrechen“, aber ein Theaterstück darf ich unterbrechen. Das ist also ein direkterer Vorgang. Ich kann mir das Stück nicht nur ansehen und mir meine Gedanken machen, sondern als Publikum direkt eingreifen. Das Theater ist also als Kunstform eine direkte Aktion, in der die gemeinschaftsbildende Kraft des Rausches zum Tragen kommt und insofern immer radikal und revolutionär.

Original Artikel aus der LZ // LEIPZIGER ZEITUNG

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