Interview mit Durs Grünbein Teil II – Kultur und Transzendenz


Interview mit Durs Grünbein Teil II

Kultur und Transzendenz

von Konstanze Caysa

KC: Aber gibt es so ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen? Warum strebt er nach Außen, indem er innerlich Ruhe sucht?

DG: Na ja, die Frage ist: Gibt es eigentlich noch Metaphysik in Zeiten der erforschten Galaxien? Gibt es in Zeiten der Astrophysik noch Metaphysik? Was soll die sein? Einfach nur das Darüberhinaus dessen, was wir sehen usw.? Was ist Metaphysik? Dass ich transzendental aus mir herausfahre?gruenbein1

KC: Ja, es geht um das Übersteigen der physikalischen Welt.

DG: Meines Erachtens ist jetzt alles Physik geworden. Auch die Metaphysik. Die Metaphysik ist ein Teilbereich der Physik, Metaphysik ist heute Astrophysik. Die Gottesfrage ist im 19. und 20. Jahrhundert eine Frage der Physik geworden.

Insofern ist die Bemerkung von Einstein bemerkenswert: Gott würfelt nicht. Das ist ein harter Satz und noch viel scheußlicher als: Gott ist tot. Zu sagen: er würfelt nicht, heißt, ihn komplett unter die naturwissenschaftlichen Gesetze zu stellen. Das heißt auch zu sagen, dass er selbst die physikalisierte Natur ist. Gott ist der Kosmos der Physiker. Er ist diesen ganzen naturwissenschaftlichen Gesetzen unterworfen worden und er kann nur wie sie funktionieren. Von da ab ist natürlich tatsächlich die Frage: Was ist dann Metaphysik? Es ist die Frage, wer der Herrscher der Welt ist. Wer beherrscht die Welt: die Philosophen oder die Physiker!?

Die Frage ist, ob wir Metaphysik brauchen, da so Vieles noch unerforscht ist. Ich sehe bei den besten Geistern eher einen Ansatz weiterhin das Unerforschte zu erforschen als sich sozusagen in die stabile Seitenlage der Transzendenz zu begeben und zu sagen: Ja, da ist immer schon das Andere, Unbegreifbare, das wir nicht erreichen. So läuft das nicht. Die forschende Menschheit wird auch morgen noch weiter angetrieben werden von dem Drang, das Unerforschte zu erforschen, noch genauer zu messen. Die ganze Zeit geht es doch eigentlich nur noch um genauere Messungen und dann eben um entsprechende Auswertung der Daten. Damit ist die Menschheit beschäftigt. Und die Sonden sollen immer weiter hinausreichen. Das ist klar. Teleskope werden immer größer, die Signale werden immer weiter hinausgesandt usw. und die werden dann ausgewertet. Immer mehr Proben von anderen Planeten werden entnommen. Das hält einige doch ganz schön davon ab, aktiv in Metaphysik zu investieren. Das überlassen sie dann den anderen. Dadurch gibt es Teile der Gesellschaft, die dafür zuständig sind. Natürlich fehlt immer was. Das ist ja klar. Aber die Frage ist, was fehlt. Dem Naturwissenschaftler fehlt der nächste kleine Wissensbaustein. Dem normalen Menschen fehlt insgesamt etwas – der Sinn. Vielleicht Trost. Am Ende fehlt vielleicht das Ganze, das Umgreifende, der Sinn und man weiß nicht mehr, warum man existiert.

Die Kirche hat Galilei schon sehr gut verstanden. Galilei war tatsächlich gefährlich, weil er wirklich scharfer Empiriker war und dadurch die alte religiöse Sinninstanz in Frage stellte, indem er feststellte, dass der Kosmos schon nach physikalischen und nicht nach göttlichen Gesetzen funktionieren muss. Und natürlich hat Gott diese Gesetze gemacht. Gar keine Frage. Aber er ist damit auch zugleich in Frage gestellt worden, wozu man jetzt noch Gott braucht, wenn es doch die Physik gibt. Genau in dieser Zeit basteln die Philosophen zum letzten Mal an großen Gottesbeweisen, die Gott jetzt noch mal in das ganze kosmische Funktionieren einbauen sollen. Aber es wird schwierig. Heute trennt man das ganz pragmatisch: Es gibt eine physikalische Welt und eine Welt des Glaubens. Natürlich hört man auch immer wieder gern, dass auch irgendwelche Nobelpreisträger privat auch ganz gläubige Menschen sind. Das Eine hat aber mit dem Anderen nicht viel zu tun.

KC: Die Frage aber ist doch, ob auch ein reiner Empiriker eine Sinnstiftungsinstanz braucht.

DG: Solang es einen wissenschaftlichen Forschungsdrang gibt, ist das auch zugleich die Sinnstiftung. Der philosophische Streit um den Status der Wissenschaften ist ein Streit um die legitimen Sinnstiftungsinstanzen. Sinnstiftung ist, dass morgen wieder ein paar Leute genau wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Sie wollen eben Kernphysiker werden, unbedingt. Das finden sie ganz interessant, weil sie dann das Gefühl haben haben, sie sind ganz vorne und können vom Anfang der Welt her das Dasein verstehen. Das ist das sinnstiftend. Nur so erklärt sich das Ganze. Dafür werden dann wieder Gelder bereit gestellt, Forschungsgelder. Im Forschungsministerium fragt man sich ja nicht nach Sinn. Aber insgesamt wird das gar nicht in Frage gestellt, dass es um Sinn geht. Niemand würde auf die Straße gehen und sagen, hier wird viel zu viel Geld verpulvert für das Kernforschungsinstitut soundso. Schade drum. Das sollte lieber in die Sozialsysteme gehen, dieses Geld. Wozu brauchen wir diese unsinnigen Teilchenbeschleuniger? Das wird gar nicht in Frage gestellt.

KC: Aber hat die Säkularisierung der Sinnstiftung Grenzen? Es gibt ja auch von Ihnen eine Kritik, an einer säkularisierten Gesellschaft, die sich sinnentleert, eben weil sie zu säkular ist, weil sie beispielsweise nur auf Konsum orientiert ist, nur auf Dinglichkeit und darin den Sinn findet – nämlich den Dingen hinterherzulaufen. Der konsumierende Mensch ist der Massenmensch.

DG: Aber so anders bin ich gar nicht. Auch als Intellektueller bin ja Konsument. Natürlich. Welterhaben sind wir alle nicht. Da müsste man anders leben. Alles auf eine Karte setzen, ein Eremiten-Dasein führen. Es ist aber auch nicht schlimm, dass es nicht so ist. Ich habe festgestellt: natürlich muss sich alles auch sozial bewähren. Letztlich auch Poesie muss etwas Gemeinsamkeitsstiftendes haben. Oder es müsste eine Flaschenpost ins All sein – für irgendjemand oder keinen. Insofern ist man mittendrin …

KC: Kann man Sinn finden in einer sinnlosen Welt?

DG: Ja, kann man, natürlich. Unbedingt, weil es beispielsweise wie gesagt eine wissenschaftliche Sinngebung des Daseins gibt. Für mich ist die wichtigste die ästhetische Sinngebung, die die Kunst definiert. Die Poesie trägt mich durch das Leben. Sonst wüsste ich ja gar nicht, warum ich das alles mache.

KC: Aber ist diese Sinnstiftung immer mit einer Bewusstheit verbunden? Oder gibt es auch Sinnstiftung, meinetwegen die Sinnstiftung der Masse, ohne Reflexion darüber. Ohne die Reflexion darüber, was man tut. Was ja eigentlich wiederum eine Fremdbestimmung wäre, ein Sich-Treiben-Lassen von außen. Kann man da noch von Sinnstiftung reden?

DG: Ich weiß eigentlich kaum noch, ob man diesen Masse-Begriff anwenden kann. Das ist jetzt sehr defizil. Wenn in Deutschland 20 Leute an einem Bahnschalter anstehen, dann ist das, glaube ich, keine Masse, dann sind das 20 Individuen, die zufällig an derselben Stelle stehen und zufällig die Zeit da verplempern müssen. Bei Demonstrationen – was sind das eigentlich noch für Massen? Es sind vorübergehend aufgebrachte Gruppen von Menschen, die jetzt aus irgendeinem Grund sich kurzfristig versammeln und dann wieder zerstreuen. So klassische Massen gibt es gar nicht mehr, es gibt die Menge, die Vielen, die eigentlich nicht einig sind, nichts einheitlich wollen und nicht gemeinsam handeln können und die aber die Mehrheit sind und deshalb glauben etwas zu sein. Bei denen, die sich da zusammenballen, ist die Frage, ob sie wirklich alle genau wissen, was sie tun. Ob sie auch nur wirklich etwas Gemeinsames wollen. Das ist Goethe aufgefallen im Zusammenhang mit der Französischen Revolution – dass die Masse eigentlich nicht weiß, was sie will – und dass sie in jedem Falle etwas anderes bekommen wird, als das, weshalb sie sich versammelt hat. Das ist ein tolles Paradoxon. Seither gab es dann größere Massen, natürlich, im 20. Jahrhundert, das war ganz gefährlich, weil da wirklich größere Massen mobilisiert wurden für irgendeine Sache. Aber nun nach diesen beiden Kriegen, nach diesen beiden Erfahrungen von totaler Herrschaft, ist es glaube ich, Gott sei Dank, ein bisschen schwieriger geworden, mit der Formierung von Massen. Jetzt gibt es sozusagen nur noch prekäre, rudimentäre Massen, Mengen von Leuten, die nicht wissen was sie tun.

KC: … und die nicht mehr zentriert sind.

DG: Ja, Gott sei Dank. Ich nehme die auch nicht mehr ganz so ernst, diese Mengen, die sich da manchmal sammeln. Schwärme sind das ja jetzt, Heuschrecken, die alles wegfressen und dann weiterziehen und den nächsten Landstrich vernichten.

greunbein2KC: In Ihrem Artikel über Dresden und Pegida1 geht es um den Massenmenschen.

DG: Ja, ich referiere da Pasolini, den linken Denker, Katholik, Kommunist und Schwulen. Ab Mitte der sechziger Jahre bricht im Grunde bei ihm die Enttäuschung über sein Volk Italien durch. Er sieht praktisch die große Konsummaschinerie angeworfen, die Amerikanisierung Italiens unter anderem durch das Fernsehen u.s.w. Er ist ja der größte Konsumkritiker bei den linken Intellektuellen der letzten Jahrzehnte. Das ist interessant, wie stark er das ausbaut. Im Grunde beschreibt er die Verwandlung eines Volkes in einer Menge von Konsumenten. Aber er hatte eben eine linke Volksidee, eine emanzipatorische Volksidee, das der Erde noch viel näher war als ein Volk von Massenkonsumenten. Das war für ihn erschütternd. Die Verwandlung der sizilianischen Bauern in eine Berlusconi-Marionette. Das hat er schon gesehen. Das ging wohl total beschleunigt vor sich. Das ging sehr schnell. Zwei Jahrzehnte genügten und dann war es mit dem Volk vorbei. Nun war es eben nur noch „Volk“, wie man abschätzig sagt. Das Volk ist für Pasolini das Monster. Das steht mir aber nicht zu, das zu sagen. Es war schön, dass Pasolini das machen konnte, weil er es so unendlich geliebt hat. Deshalb durfte er entsprechend enttäuscht sein. Das gelingt uns nicht ganz so leicht, uns ist das Volk egal. Soll es doch machen, was es will. Die wissen doch nicht, was sie tun. Sie sind eine getriebene Herde. Was in Italien Accattone2 war, also letzten Endes auch eine Litanei über den jungen Menschen nach dem Krieg, das ist bei uns Katzelmacher3. Also schon total der Hangover. Das ist absolut zweierlei. Das sind doch zwei verschiedene Bilder von Jugend. Mit anderen Worten: wir hatten in unserer Geschichte nach 1945 keine Volksidee mehr. Bei uns war man erst einmal froh, dass das Schlimmste vorbei war. Wir konnten einigermaßen von der Idee eines Nationalsozialismus geheilt werden. Eine tödliche Mischung: Sozialismus und das Nationale.

Natürlich, jetzt gibt wieder Bewegungen, die die Nation abschotten wollen. Sie sind unzufrieden mit der Globalisierung. Nutznießer sind Einzelne. Aber da müssten sie ganz anders konsumieren, ganz anders leben, wenn sie das wollen. Diese Unzufriedensheitsbewegung muss man weiter beobachten. Das ist klar. Sie wird sich verstärken, je größer die Migrantenströme werden.

KC: Wird unsere Kultur nicht schlecht finalistisch, vom bösen Ende her, von den Verbrechen eines nationalen Sozialismus von rechts und links aus gesehen?

DG: Jede Kultur hat ihre eigene Narrative. Zur deutschen Kultur bzw. Unkultur gehört natürlich auch die Vernichtung des Judentums im Nationalsozialismus. Aber unsere Geschichte ist nicht finalistisch darauf zu reduzieren und strebt als Kultur der Deutschen nicht von vorn herein dorthin. Deshalb konnte Thomas Mann, auch im Gegensatz zu seinem „Bruder Hitler“ behaupten, dass dort, wo er ist, Deutschland ist und Deutschland nicht Hitler-Deutschland ist. Was wir aber brauchen ist ein neues Selbstverständnis der deutschen Kultur, wozu wesentlich gehört: ein neues sprachliches Selbstbewusstsein. Als Dichter bin ich an meine Muttersprache gebunden. Bestimmtes kann man nur deutsch sagen, so wie man Bestimmtes nur englisch oder italienisch sagen kann. Wir müssen daher die Sprachidentität in der Vielheit der Sprachen erhalten.

1 Durs Grünbein: Das Volk, dieses Monster. In: Die Zeit. Ausgabe 07/2015.

2„Accattone“ ist ein italienischer Spielfim aus dem Jahre 1961, verfilmt von Pasolini.

3Katzelmacher ist eine abschätzige Bezeichnung für Gastarbeiter, v.a. Italiener. „Katzelmacher“ hieß der zweite bedeutende Spielfim von Rainer Maria Fassbinder.

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