LEBEN MUSS MAN KÖNNEN?
Ein Interview mit Wilhelm Schmid zur Philosophie der Lebenskunst
am 05.06.2015, Hotel Seaside Leipzig
von Konstanze Caysa
KC: In meinen Seminaren sowohl am Philosophischen als auch am Kulturwissenschaftlichen Institut der Uni Leipzig werde ich immer wieder gefragt, ob die Philosophie der Lebenskunst nicht auch nur eine Anleitung ist, die den Menschen ihr Leben fremdbestimmt vorschreiben will.
WS: Dazu muss ich erst einmal etwas ganz Grundsätzliches sagen. Merkwürdigerweise wird die Lebenskunst immer mit Selbstbestimmung identifiziert. Aber Lebenskunst besteht darin, sich bewusst zu werden über das Leben. Leben ist fremdbestimmt und zwar zu einem hohen Maße. Wir sind fremdbestimmt von unseren Genen. Wir sind fremdbestimmt vom Wetter. Wir sind fremdbestimmt von ökologischen Verhältnissen. Das können wir nicht jeden Tag beliebig ändern und manche Dinge können wir auch nie ändern. Wir sind fremdbestimmt davon, dass wir krank werden. Das ist nicht auszuschließen. Wir sind fremdbestimmt davon, dass Zufälle in unser Leben kommen. Beispielsweise der Zufall der Begegnung mit einem anderen Menschen, mit dem wir dann möglicherweise durchs Leben gehen. Aber wir haben es nicht selbst bestimmt, diesen Zufall herbeizuführen. Insofern ist menschliches Leben in hohem Maße fremdbestimmt. Und Lebenskunst besteht darin, sich darüber Rechenschaft abzulegen und nicht ein blindwütiges Anrennen gegen Fremdbestimmung zu praktizieren, sondern einfach zu sagen: Ja, es gibt Fremdbestimmung und es wird sie immer geben. Bis zu welchem Grad kann ich etwas daran verändern? Wie kann ich Einfluss nehmen auf meine persönlichen Lebensverhältnisse und wo ist die Grenze? Und kann ich dann akzeptieren, dass es eine Grenze gibt? Oder mache ich den modernen Wahn mit, über alles vollkommen bestimmen zu wollen? Dann habe ich eventuell nicht viel Freude am Leben!
KC: Aber innerhalb dieser Fremdbestimmung, die natürlich von Geburt an für jeden besteht, ist es doch die Aufgabe des Lebenskünstlers, selbstbestimmt Maße des Umgangs mit dieser Fremdbestimmung zu finden. Oder sehe ich das falsch? Es geht doch vor allem darum, einen Rahmen selbsttechnolgisch zu finden, der es mir ermöglicht, nicht maßlos abhängig von der Fremdbestimmung zu sein.
WS: Ja, aber nur dann, wenn man es möchte, wenn ich einverstanden bin damit, dass man eben fremdbestimmt ist, dann kann ich es auch lassen, darauf Einfluss zu nehmen. Ich möchte keine neue Norm aufstellen. Die neue Norm würde dann heißen: Du hast selbstbestimmt zu sein! Die Selbstbestimmung kann heißen: Ich bestimme selbst, dass ich mich nicht selbst bestimmen will. Statt eine neue Norm aufzustellen, geht es darum, Menschen auch diese Freiheit zu lassen, zu sagen: Ich gliedere mich ein in die Verhältnisse, wie sie sind.
KC: Was unterscheidet die Philosophie der Lebenskunst Deiner Ansicht nach von der vorherrschenden akademischen Philosophie?
WS: Es gibt eine Reihe von Themen, die in der akademischen Philosophie nicht häufig vorkommen, um das einmal vorsichtig auszudrücken. Zum Beispiel die Gelassenheit und natürlich die Lebenskunst als Generalthema. Aber auch die praktische Tätigkeit von Philosophen in Krankenhäusern, in Gefängnissen, in Firmen, in der Politik. Diese praktischen Tätigkeiten des Philosophen kommen in der akademischen Philosophie nicht vor und gibt es für sie auch nicht. Der schleswigholsteinische Umweltminister ist beispielsweise ein Philosoph. Warum bereitet die Philosophie nicht stärker auf diese praktischen Tätigkeiten vor? Da fehlt eine volle Seite der Philosophie, die zu ihr gehört und das werden wir uns nicht mehr lange leisten können. Die akademische Philosophie lebt von Steuergeldern. Bürger beauftragen Universitäten und damit auch Philosophen mit der Ausbildung ihrer Jugend. Die Philosophie hat einen öffentlichen Auftrag von der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit. Die Philosophie hat den Auftrag, das Nachdenken der Gesellschaft über sich selbst zu fördern.
KC: Kann die Philosophie der Lebenskunst als ein gesellschaftliches Bindemittel wie Ethik oder Religion dienen?
WS: Ja, denn es gibt nun einmal sehr viel Leute, die gehen nicht zur Religion, wenn sie Lebensfragen haben. Zur Ethik können sie nicht gehen, denn Ethik ist kein Bereich, der von irgendwelchen Menschen repräsentiert wird. Ethik gibt es entweder innerhalb der Religion oder innerhalb der Philosophie. Das, was als Alternative bliebe, wäre Psychologie. Aber Menschen gehen auch nicht zu Psychologen, wenn sie sich nicht psychisch krank fühlen. An wen wenden sich die Menschen, wenn sie von existenziellen Lebensfragen bewegt sind? Zum Beispiel an mich. Die suchen nicht nach neuen fixen Normen. Die kommen nicht zu mir, um von mir zu erfahren, dass sie so und so zu leben haben. Das sage ich ihnen in keinem einzigen Fall. Das steht auch in keinem einzigen meiner Bücher. Diese Menschen hoffen nur darauf, dass sie mit einem Menschen sprechen können, der kompetent mit ihnen nachdenkt. Kompetent heißt, der eine große systematische Bandbreite und eine große historische Tiefe des Denkens kennt. Das gehört normalerweise zur philosophischen Ausbildung. Das soll auch so bleiben. Wir brauchen diese Ausbildung, aber sie muss lebenspraktisch ausgerichtet werden.
KC: Worin siehst Du zukünftige Themen der Philosophie der Lebenskunst?
WS: Da müsste ich mein Publikationsprogramm der nächsten zwanzig Jahre offenlegen und das tu ich nicht.
KC: Vielleicht tendenziell …
WS: Zu den Themen der Lebenskunst gehört alles was Menschen bewegt und da bin auch ich manchmal überrascht. Ich habe vor zwei Jahren das Thema Gelassenheit für mich entdeckt. Erst einmal aus ganz privaten Gründen. Und als ich nun meinte mehr darüber zu wissen, habe ich ein kleines Buch darüber publiziert und war selbst perplex, was für einen enormen Erfolg dieses Buch hat, auch noch ein Jahr nach seinem Erscheinen. Das hat mich gelehrt: Aha, das ist ein Thema, das viel mehr Menschen bewegt als das Thema Liebe, sogar als das Thema Glück. Das wusste ich nicht vorher. Das wusste keiner vorher. Das hat sich jetzt erst auf Grund der Zustimmung von so vielen Menschen erwiesen.
KC: Geht das Thema der Gelassenheit die Vielen vielleicht deswegen so sehr an, weil sie im Alltag eigentlich immer sehr gehetzt sind und kaum zur Ruhe kommen?
WS: Offenkundig ist da eine Schwelle überschritten worden, ja. Aber nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Die Suche nach Gelassenheit ist nicht neu. Bei Seneca habe neulich den Begriff „homo occupatus“ gefunden. Seine Zeit, wie er schreibt, war geprägt vom homo occupatus. Wer ist das? Der besetzte Mensch, der permanent irgendetwas zu tun hat, der immer in Aktivitäten verstrickt ist und so nicht zur Besinnung kommt. Das war vor zweitausend Jahren so und ist heute so. Insofern wiederholt sich die Geschichte manchmal. Heute haben wir wieder den homo occupatus und nun sucht er wieder nach Philosophie, um von sich frei zu werden und ich glaube, dass ich in diesem kleinen Buch sehr gute Vorschläge dazu machen kann. Anders ist der Erfolg nicht zu erklären. Die Leute kaufen ja nicht einfach so ein Buch und verschenken es blind weiter, sondern sie lesen dieses Buch, finden, dass es wirklich hilft und dann empfehlen sie es weiter.
KC: Was ist das für eine Wissensform, die der Philosophie der Lebenskunst zu Grunde liegt?
WS: Lebenskunst ist in meinen Augen bewusste Lebensführung und Philosophie der Lebenskunst ist Nachdenken über die bewusste Lebensführung. Was brauchen wir für die bewusste Lebensführung? Ein Wissen über die Bedingungen. Was sind die Bedingungen unseres Lebens? Ökonomische, ökologische, politische, genetische, soziale, psychologische usw. Bedingungen. Und was sind im Rahmen dieser Bedingungen unsere Möglichkeiten, die entweder schon da sind, die wir aber vielleicht nicht sehen oder die wir erst schaffen müssen, wenn wir Möglichkeiten haben wollen? Wenn nicht: kein Problem; dann heißt bewusste Lebensführung, dass ich einverstanden bin mit allem, was ist.
KC: Das wäre Deiner Ansicht nach auch „bewusst“?
WS: Ja, natürlich, wenn ich darüber nachdenke und sage, entweder ich finde es gut so oder ich finde es nicht gut so, dann kann ich auch sagen, ich lasse alles so. Ich selbst pflege diese Art von Lebenskunst nicht. Ich versuche auf die Dinge Einfluss zu nehmen, bei denen ich den Eindruck habe, dass es möglich ist. Ich habe beispielsweise die Möglichkeit Einfluss zu nehmen auf mein ökologisches Verhalten. Das ökologische Verhalten der Menschen insgesamt nimmt Einfluss auf die ökologischen Verhältnisse. Aber ich lebe auch damit, dass andere Menschen sagen: ich will aber nicht Einfluss nehmen auf die ökologischen Verhältnisse, weil es mir egal ist. Kann ich diese Menschen zu irgendetwas zwingen?
KC: Das setzt aber voraus, dass sich der Einzelne darüber bewusst ist, was er will und was er nicht will.
WS: Ja, die meisten wissen, dass einiges anders sein sollte, meinen aber, dass es die Aufgabe der Politik ist, etwas zu verändern. Die Menschen scheuen sich davor sich selbst zu ändern. Denn wenn sie sich da mal dran machen würden, sich selbst zu ändern, würden sie bemerken, das ist irrsinnig schwer. Deswegen sollen das andere machen. Das ist natürlich nicht fair.
Sich über solche Dinge bewusst zu werden, ist meines Erachtens Lebenskunst, sich darüber Rechenschaft abzulegen, um dann eine eigene Entscheidung zu treffen und zwar wirklich eine eigene. Ich sage den Menschen nicht: Du musst aber das oder Du musst das machen.
Was ist da die Rolle des Wissens? Wir können ein relatives Wissen über Verhältnisse gewinnen, aber das ist, glaube ich, eine Zutat der philosophischen Lebenskunst. Ein relatives Wissen. Wir werden niemals ein absolutes Wissen über irgendetwas haben. Auch sämtliches generiertes wissenschaftliches Wissen ist immer nur relatives Wissen. Woher weiß ich das? Das weiß ich aus der Wissenschaftsgeschichte. Wissen ist immer überholt worden von anderem Wissen und nicht nur überholt, sondern auch von Grund auf verändert worden durch anderes Wissen. Wer möchte den Optimismus haben, dass dieser Prozess heute abgeschlossen ist? Ich habe auch nicht den Optimismus, dass dieser Prozess jemals abgeschlossen ist. Wir werden niemals endgültiges Wissen über irgendetwas haben. Nicht über die Liebe, nicht über das Universum, nicht über das Sterben usw.. Immer bleibt Wissen eine offene Angelegenheit. Daraus resultiert für die Lebenskunst: ich arbeite auf der Basis des momentan verfügbaren Wissens in dem Wissen, dass es relativ ist. Das hält mich offen dafür, dass andere kommmen können und sagen können, dass sie noch andere Informationen haben. Dann werde ich die einbeziehen oder sagen, dass ich sie ignoriere. Allein auf Wissensbasis das Leben zu führen, ist nicht möglich. Wir müssen manchmal ins Wasser springen ohne zu wissen, ob das Wasser uns trägt.
KC: Das war ein passendes Schlusswort. Ich danke Dir für das Interview.